29. October 2023

Erfolgreich gegen den Strom (Manova)

Kao BinChun/Shutterstock.com
Foto: Kao BinChun/Shutterstock.com

 

Der unlängst verstorbene Ökonom und Publizist Aleksandr Wladimirowitsch Busgalin blieb im postkommunistischen Russland dem Marxismus treu.

In den letzten 70 Jahren hat sich sehr viel geändert in Russland — seinerzeit noch Teil der Sowjetunion. Wie bleibt man in dieser Zeit und angesichts wechselnder Herrschaftsideologien seiner Überzeugung treu, ohne unbeweglich zu werden? Und wie positioniert man sich als Marxist, nachdem der Marxismus aufgehört hat, Staatsdoktrin zu sein. Der russische Ökonom, Theoretiker und Publizist Aleksandr Wladimirowitsch Busgalin war in seiner Heimat hoch angesehen und publizierte auch im Ausland. Er betrachtete die mangelnde Aufarbeitung des Stalinismus ebenso kritisch wie die soziale Schieflage in der Amtszeit Gorbatschows. Auch Wirtschafts- und Militärpolitik wurden von Busgalin scharfsinnig analysiert. Mit ihm verlieren Russland und die Welt einen aufrechten und unbequemen Denker, der den Versuchungen der Diktatur wie des Neoliberalismus gleichermaßen widerstanden hat.

von Ulrich Heyden

Im Alter von 69 Jahren starb am 18. Oktober 2023 der international bekannte Ökonom, Theoretiker und Publizist Aleksandr Wladimirowitsch Busgalin. Der Tod kam überraschend. Das Moskauer Sklifosowski-Krankenhaus diagnostizierte einen ischämischen Schlaganfall.

Der Ökonom gründete 1991 die Zeitschrift Alternativy und war seitdem ihr Chefredakteur. Schwerpunkt der Zeitschrift war die Kritik der neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik in Russland seit 1991.

Die Philosophische Fakultät der Moskauer Universität (MGU), an der Busgalin ein Zentrum für marxistische Forschungen leitete, würdigte den Verstorbenen in einem Nachruf als „führenden russischen Ökonomen“.

Am Freitag, dem 20. Oktober, nahmen Professoren, Studenten und Freunde von dem in der Staatlichen Moskauer Universität (MGU) aufgebahrten Leichnam Abschied. So ist es in Russland Sitte. Eine aufrüttelnde Ouvertüre aus der sowjetischen Verfilmung des Jules-Verne-Romans „Die Kinder des Kapitän Grant“ brachte etwas Zuversicht in die Veranstaltung. Es war die Lieblingsmusik des Verstorbenen.

Kein Professor im verstaubten Stübchen

Ich bin Busgalin in den letzten dreißig Jahren mehrmals begegnet, mal zu Gesprächen und Interviews, mal auf Veranstaltungen im Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau und einmal durch Zufall mit seiner Frau, der Kulturologin Ljudmilla Bulawka-Busgalina, auf der Krim, wo die beiden Urlaub machten.

Ich habe Aleksandr Wladimirowitsch als kontaktfreudig in Erinnerung. Er sprach verständlich. Gestelzte Formulierungen waren ihm fremd. Für ihn zählten Wissen, Fakten und Argumente. Und er wollte von allen – auch den einfachen Leuten – verstanden werden.

Zuletzt sah ich Busgalin Ende November 2022 auf dem von ihm organisierten „Zweiten Marxistischen Forum“ in der Philosophischen Fakultät der Moskauer Universität (MGU). Auf dem Forum ging es um „die Gesellschaftswissenschaften in der UdSSR und ihre Rolle im 21. Jahrhundert“.

Am ersten Tag der Veranstaltung waren 50 Personen anwesend. Vierhundert Teilnehmer hatten sich online registriert und konnten die Konferenz über das Internet verfolgen.

Zahlreiche Marx-Experten aus den USA, Deutschland, anderen westlichen Ländern, China und Lateinamerika, die aus Kostengründen nicht anreisen konnten, beteiligten sich mit Vorträgen. Die Referenten kritisierten die zu Sowjetzeiten übliche Verengung der Lehre von Marx auf Begriffe wie „Macht“ und „Produktionsmittel“. Ein Referent warf den marktliberalen Reformern im Russland der 1990er Jahre vor, sie hätten einen Vulgär-Marxismus betrieben, indem sie das „Absterben des Staates“ propagierten.

Andere Referenten hoben hervor, dass es seit den 1960er Jahren – einige meinten sogar seit den 1930er Jahren – unter den Marx-Forschern in der Sowjetunion Debatten über unterschiedliche Positionen gab.

Und auch das wurde zur Sprache gebracht: Russophobie könne man Marx nicht unterstellen. Er habe Russisch gelernt, Kontakt zu Russen gehabt und die 1. Internationale gegründet.

Aleskandr Wladimirowitsch Busgalin vollbrachte ein Wunder. Er machte sich als marxistischer Ökonom in einem post-marxistischen Land einen Namen. Er schrieb für russische und für ausländische wissenschaftliche Zeitschriften. Er veröffentlichte 350 wissenschaftliche Arbeiten und publizierte 26 Bücher, zusammen mit seinem Co-Autor Andrej Kolganow, mit dem er seit Studentenjahren verbunden war. Außerdem gibt es von Busgalin vier wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher.

Bei der Trauerfeier sagte Andrej Kolganow, Alexander Busgalin sei in den 1990er Jahren – „der schwersten Zeit“ - den Grundüberzeugungen seiner Jugendzeit treu geblieben. „Er schwamm nicht nur gegen den Strom. Er schwamm erfolgreich gegen den Strom. Er hatte viele Gegner, aber keine Feinde.“ Seine Autorität als Wissenschaftler und Organisator von wissenschaftlichen Konferenzen sei auch von seinen Gegnern anerkannt worden.

Mit 36 Jahren im ZK der KPdSU

Aleksandr Wladimirowitsch wurde 1954 in der Familie eines Moskauer Militärs geboren. Er studierte Wirtschaftswissenschaften. Schon als Student hatte er eine kritische Position zum sowjetischen System. Seine 1979 verteidigte Doktorarbeit trug den Titel „Widersprüche der planmäßigen Organisation in der sozialistischen Produktion“.

1990/91 – in der Endphase von Gorbatschows Perestroika – schaffte der Ökonom den Sprung in das Zentrum der sowjetischen Macht. Mit 36 Jahren wurde er Mitglied des ZK der KPdSU. Aber die Partei mit ihren 19 Millionen Mitgliedern wurde im November 1991 vom russischen Präsidenten, Boris Jelzin, verboten. Eine wissenschaftliche Karriere schien nach dem Partei-Verbot unmöglich. Doch 1993 wurde Busgalin Wirtschaftsprofessor an der Moskauer Staatlichen Universität (MGU).

Seit Anfang der 1990er Jahre war Busgalin beteiligt an gesellschaftliche Bewegungen. Nachdem er 1991 die Zeitschrift Alternativy (Alternativen) gegründet hatte, baute er um diese im Jahre 2000 eine Bewegung unter gleichem Namen auf.

Die akademische Karriere allein reichte ihm nicht. Wo es nur ging, suchte er Kontakt „zu den Massen“. Er schrieb Kolumnen für die Moskauer Boulevardzeitung Moskowski Komsomolez und war Teilnehmer zahlreicher Internet-Talkshows. 2002 organisierte Aleksandr Wladimirowitsch die russische Delegation für das Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre. Außerdem organisierte er die „Russischen Sozialforen“ in den Jahren 2003 bis 2008 mit.

Modernisierung der Wirtschaft überfällig

Ich möchte an dieser Stelle die Positionen von Busgalin zu den Auswirkungen der antirussischen Sanktionen wiedergeben, welche der Ökonom 2022 in einem Interview mit dem Internetportal Prawda dargelegte.

Der Ökonom erklärte, dass in der EU wie auch in Russland die Interessen der Menschen auf der einen und die der Staatsbürokratien und transnationalen Unternehmen auf der anderen Seite nicht identisch sind.

Unter westlichen Sanktionen leiden die Bürger und der Mittelstand in der EU, die großen Unternehmen und Rüstungskonzerne dagegen bekämen Hilfe vom Staat. Das sei ein klassenpolitischer Widerspruch.

Ähnlich sei es in Russland, wo 2021 noch ein Wirtschaftswachstum prognostiziert wurde. Doch durch den geringeren Gasverkauf und deshalb weniger Staatseinnahmen bestünde jetzt ein Haushaltsdefizit. Russische Rüstungskonzerne profitierten durch neue Aufträge. Im Bildungs- und Gesundheitssektor dagegen fehle das Geld.

Busgalin sah es als problematisch, wenn Studenten im Alter von 21 Jahren zur Armee eingezogen werden. Das werde sich negativ auf die Gründung von Familien und die Geburtenentwicklung auswirken. Das System der Einberufung zur Armee müsse komplett überarbeitet werden. Russland brauche heute dringend talentierte und qualifizierte Fachkräfte. Die Einberufung von 21-Jährigen sei ein Schlag gegen die Wirtschaft.

Auf der anderen Seite drohe eine Spaltung der Gesellschaft, wenn in der Armee nur die schlecht qualifizierten dienten. Deshalb schlage er vor, Studenten während des Studiums für kurze Trainingsmaßnahmen zur Armee zu schicken. Auch sei zu überlegen, ob man nicht zum Beispiel eine ganze Uni-Fakultät einen Monat zu einer Militärübung schickt. Das festige die Verbindung zwischen Volk und Armee.

„Eigentlich müssten die Russen dreimal besser leben“

Die Politik der russischen Liberalen habe nicht den versprochenen Wohlstand gebracht. Der ehemalige russische Finanzminister Aleksej Kudrin habe 2021 erklärt, die Einkommen der Russen seien seit 1991 um 20 Prozent gestiegen. Das, so Busgalin, seien weniger als 1 Prozent Einkommenssteigerung pro Jahr. Aber eigentlich müssten die Russen heute „dreimal besser leben als 1991. Das Durchschnittsgehalt müsse heute bei 150.000 Rubel (1.400 Euro) und nicht bei 50.000 (480 Euro) liegen“.

Worauf stützte Busgalin seine Berechnung? In den 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich die Einkommen der Sowjetbürger – nach der sowjetischen Statistik, wie nach den Berechnungen der CIA – verdreifacht.

In der russischen Ökonomie gäbe es heute einen Reform-Stau. In der Wirtschaft sei mehr Planung nötig. Der Marktmechanismus müsse teilweise eingeschränkt, ein Teil der Unternehmen nationalisiert oder sozialisiert, die soziale Verantwortung der Unternehmer erhöht werden.

Der Rubelkurs regele sich heute formal über den Finanzmarkt, doch tatsächlich hätten Finanzfirmen, der Staat und Menschen mit Insiderwissen die Möglichkeit, an den Finanzmärkten Absprachen zu treffen. Russland habe ein unabhängiges Finanzsystem, trotzdem spielten der Dollar- und der Euro-Kurs in Russland noch eine zu große Rolle.

Die Positionen von Busgalin zur russischen Wirtschafts- und Finanzpolitik sind im Großen und Ganzen identisch mit den Positionen des Moscow Economic Forum, einem Kreis von linkspatriotischen Wirtschaftsexperten, die seit 2013 jedes Jahr in der Moskauer Universität MGU einen Kongress mit Vorträgen und Debatten veranstalten.

„Erst kritisierte man nur Stalin, dann Lenin, Allende und Olof Palme“

Die Probleme des heutigen Russland hängen nach Busgalins Meinung auch mit der Stalin-Zeit zusammen. In einem Streitgespräch mit einem Stalin-Sympathisanten für die Zeitschrift Alternativy erklärte Busgalin, die Hauptfehler des sowjetischen Systems waren „Bürokratismus, Formalismus und ideologisches Diktat“.

Aber nicht nur der Stalinismus auch die Perestroika unter Gorbatschow habe Opfer gefordert. Die soziale Lage der einfachen Menschen verschlechterte sich ab Ende der 1980er Jahre rapide. Gleichzeitig gab es eine Rechtsentwicklung.

„Zuerst kritisierte man nur den Bürokratismus, dann kritisierte man Stalin, dann Lenin und dann alle Linken. Sogar Salvador Allende und Olof Palme galten den russischen Liberalen als ‚Anhänger des roten Terrors´.“ Der Höhepunkt der „liberalen Attacke“ sei die Beschießung des russischen Parlaments im Oktober 1993 und die Verehrung von Augusto Pinochet durch die russischen Liberalen gewesen.

Reaktion auf liberale Übertreibungen: Stalin-Terror wird gerechtfertigt

Die Übertreibungen und Lügen der Liberalen hätten in der russischen Gesellschaft zu unangenehmen Gegenreaktionen geführt. Viele Menschen hätten begonnen die Massenrepressionen unter Stalin zu rechtfertigen. Dabei sei völlig unklar, warum es in der Stalin-Zeit plötzlich mehr „innere Feinde“ gegeben haben soll als unter Lenin.

Der Ökonom war allerdings gegen jedes Kleinreden des stalinistischen Terrors. Selbst wenn es unter Stalin „nur 100.000 Repressierte“ gab und nicht wie von einigen Liberalen behauptet „Millionen“, sei das eine „sehr große Zahl“. Busgalin empfahl, zu diesem Thema seriöse Bücher zu lesen, sowohl von den Stalin-Kritikern als auch von seinen Verteidigern.

„Das rote System wurde deformiert“

Der Stalinismus habe in Russland Spuren hinterlassen. An die Stelle von Internationalismus trat Großmachtstreben, an die Stelle von revolutionärem Enthusiasmus und Kooperativen traten Zwangskollektivierung und materielle Privilegien. „Das rote System wurde deformiert.“

Ein Ergebnis dieser Deformation sei, dass sich heute in Russland sogar Monarchisten für Stalin begeistern, weil der Woschd (Führer) die Schulterstücke in der Roten Armee wieder eingeführt hat.

Für die bekannte Moskauer Kommunistin und ehemalige Duma-Abgeordnete Darja Mitina ist Busgalin „unersetzlich“. „Ich glaube heute werden viele Menschen weinen. Aber morgen werden sie das umsetzen, was Aleksandr Wladimirowitsch uns gelehrt hat. Er bleibt immer mit uns. Als Freund.“

Der Tod von Aleksandr Wladimirowitsch reißt tatsächlich eine Lücke. Aber vielleicht erwachsen aus dem Kreis der 30 Doktoranten, die der Verstorbene betreute, Wissenschaftler, welche die Marxismus-Forschung in Russland fortführen.

 

Foto: Alexander Busgalin, Screenshot "Alternativy"
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Zweites marxistisches Forum, Moskau, Foto: Ulrich Heyden

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Zweites marxistisches Forum, Foto: Ulrich Heyden

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veröffentlicht in: Manova

 

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