15. March 2024

Plebiszit um Putin (Junge Welt)

Die Vorsitzende der zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa (Moskau, 14.3.2024), Anton Vaganov/REUTERS
Foto: Die Vorsitzende der zentralen Wahlkommission Ella Pamfilowa (Moskau, 14.3.2024), Anton Vaganov/REUTERS

Von Ulrich Heyden, Moskau

In Russland beginnen heute die Präsidentschaftswahlen. Vier Kandidaten stehen zur Wahl. Einer von ihnen ist Amtsinhaber Wladimir Putin. In Moskau sieht man zwar keine Wahlplakate der vier Präsidentschaftskandidaten, aber es gab eine freie Debatte im Fernsehen. Auf dem Ersten Kanal gab es regelmäßige Sendungen unter dem Titel »Debatte«, in denen die Kandidaten über ausgewählte Sachthemen diskutierten. Putin nimmt an solchen Debatten nicht teil.

Der Präsidentschaftskandidat der Kommunistischen Partei, der 79 Jahre alte Nikolai Charitonow erklärte in der Sendung am 29. Februar, nachdem der Westen Russland mit dem Minsker Abkommen hinters Licht geführt habe, seien Verhandlungen mit Kiew »nur nach unseren Bedingungen möglich«. Russland kämpfe in der Ukraine »nicht gegen die Bevölkerung, sondern gegen eine US-amerikanische Marionettenregierung«. Der Kandidat der rechten, Liberaldemokratischen Partei (LDPR), der 56 Jahre alte Leonid Sluzki polterte in der Show gegen die Pläne westlicher Staaten, russisches Staatseigentum zu enteignen. Sluzki ist Vorsitzender seiner Fraktion in der Duma, hat aber nicht das Charisma des 2022 verstorbenen LDPR-Gründers Wladimir Schirinowski. Bei den Duma-Wahlen 2021 bekam die LDPR sieben Prozent der Stimmen.

Von Zensur war in der »Debatte« nichts zu spüren. Der Präsidentschaftskandidat Wladislaw Dawankow von der wirtschaftsliberalen Kleinpartei »Neue Leute« erklärte, er wisse von seinen ehemaligen Kommilitonen, die jetzt als Soldaten in der Ukraine seien, dass sie »so schnell wie möglich nach Hause wollen«. Je eher man mit Kiew verhandele, »desto besser«. Nikolai Bondarenko, ein 38 Jahre alter KP-Abgeordneter aus der Wolgastadt Saratow, der als Vertreter des kommunistischen Präsidentschaftskandidaten an der »Debatte« teilnahm, wollte von systemkonformem Geplänkel nichts wissen. Er griff frontal die Politiker an, die seiner Meinung nach die Interessen der Oligarchen vertreten, und machte sie für die großen Lücken in der russischen Wissenschaft, Ausbildung und im Gesundheitswesen verantwortlich.

Als der Moderator Bondarenko fragte, was er davon halte, dass man die Arbeit der Lehrer an den Schulen »entbürokratisiert«, meinte der KP-Abgeordnete, der auf Youtube 1,8 Millionen Abonnenten hat, die Bürokratisierung sei »nicht das Hauptproblem«, sondern der russische Haushalt, »in dem der Anteil für die Bildung Jahr für Jahr sinkt«. 80 Prozent der Schulen bräuchten »eine unverzügliche Renovierung«. In den letzten 30 Jahren »des zerstörerischen Regierungskurses« seien »30.000 Schulen geschlossen« worden. Der Talkshowmoderator fiel Bondarenko nicht ins Wort, er kritisiert ihn nicht, er reagierte noch nicht mal mit ironischen Bemerkungen.

Während ich in Moskau keine Wahlplakate der Präsidentschaftskandidaten sah, bemerkte ich diese aber im Moskauer Umland. Vor allem die Plakate des kommunistischen Kandidaten Nikolai Charitonow stachen ins Auge. Auf denen stand in weißen Lettern auf rotem Grund, »man hat ein bisschen im Kapitalismus gespielt - es reicht!«. Dass die Kommunistische Partei den Kapitalismus auf Wahlplakaten ins Visier nimmt, habe ich noch nie erlebt. Bisher ging es der Partei »nur« um die Nationalisierung der Schlüsselindustrien. Mit ihrer Wahlpropaganda reagiert die KP offenbar auf weitverbreitete Unzufriedenheit mit der sozialen Situation in Russland.

Gewählt wird bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen drei Tage lang, bis zum 17. März. 112 Millionen Russen sind wahlberechtigt. Von denen leben 4,5 Millionen in den »neuen Regionen«, also in den Gebieten Donezk, Lugansk, Saporoschje und Cherson, die Russland seit der Ukraine-Invasion 2022 dazugewonnen hat. In den Wahllokalen wird es Wahlbeobachter von Parteien und gesellschaftlichen Organisationen geben. Auch Wahlbeobachter aus dem Ausland sind eingeladen.

Schon bei der Duma-Wahl 2021 wurde drei Tage lang gewählt. Damals erhoffte man sich, dass sich dadurch die Menschenansammlungen verringern und sich damit auch das Infektionsrisiko mindert. Bei der diesjährigen Präsidentschaftswahl geht es der Wahlkommission vor allem um einen ruhigen Verlauf, und darum die Gefahr von Terroranschlägen zu minimieren. Wie die verstärkten Angriffe von russischen Söldnern in ukrainischen Diensten auf die russische Grenze am Dienstag und die ukrainischen Drohnenangriffe auf die Stadt Belgorod am Donnerstag mit zwei toten Zivilisten und vier Verletzten zeigten, tut Kiew alles dafür, um vor den Wahlen in Russland Angst und Spannung zu erzeugen.

Ich fragte meinen Nachbar, wen er wählen wird. Der 55 Jahre alte, groß gewachsene Mann lächelte und meinte »Wolodija«, die familiäre Kurzform für Wladimir Putin. Die anderen Kandidaten seien »nicht fähig«. Eine Amtszeit wolle er dem Amtsinhaber noch geben, obwohl er »einige Fragen« an den Präsidenten habe. »Welche?« wollte ich wissen. Die Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und Benzin machen ihm große Sorge. Nach offiziellen Angaben stiegen 2023 die Preise für Lebensmittel um acht und für Benzin um sieben Prozent. Für ein Land mit großen Ölressourcen sei das eine Schande. Verantwortlich für diese Politik seien korrupte Leute im Machtapparat. Mein Nachbar redete sich in Rage und erklärte schließlich, man solle die Todesstrafe wieder einführen. Das hätte für korrupte Personen eine abschreckende Wirkung. Die Besucherzahl in den riesigen, in den 2000er Jahren gebauten, mehrstöckigen, supermodernen Einkaufszentren sind stark gesunken. Die Kaufkraft der einfachen Leute, aber auch der Mittelschicht, hat deutlich nachgelassen. Mein Nachbar hofft, dass der Krieg bald zu Ende ist, aber das könne noch »lange dauern«. Am besten wäre es, die Volksrepubliken Donezk und Lugansk »vollständig zu befreien« und dann »eine Abwehrmauer« zur Ukraine zu errichten. »Aber sie werden trotzdem weiter auf uns schießen«, meinte er.

Ein anderer Nachbar, Rentner und 65 Jahre alt, will ebenfalls Putin wählen. Sein Argument kenne ich schon von früheren Wahlen. »Wenn neue Leute an die Macht kommen, dann beginnt das große Hauen und Stechen um die Reichtümer.« Das wäre nicht gut für Russland. Außerdem gibt es Krieg und ein altes russisches Sprichwort besage: »Vor der Überquerung einer Furt werden die Pferde nicht gewechselt.« Eine 22jährige Russin, die ich auf der Straße traf, meinte, »normalerweise gehe ich nicht zur Wahl«, aber dieses Mal werde sie wählen, denn sie wolle nicht, dass der Präsident ihre Stimme bekommt.

In Moskau spürt man vom Ukraine-Krieg fast nichts. Selbst als am Dienstag morgen nahe der Ukraine russische Legionäre, die in Diensten Kiews, mit Panzern die russische Grenze durchbrechen, ging in der Zwölf-Millionen-Stadt alles seinen gewohnten Gang. Ziel des Angriffs war offenbar, Stoff für Schlagzeilen zu liefern. Der Kreml reagierte augenblicklich. Am Dienstag nachmittag wurde bekanntgegeben, dass Wladimir Putin dem Fernsehmoderator Dmitri Kisseljow am Mittwoch ein längeres Interview geben wird. Darin sollten Themen, die der Präsident schon in seiner Rede vor der Föderationsversammlung am 21. Februar angeschnitten hatte, vertieft werden. Putin erklärte, Russland sei bereit gegen einen Angreifer Atomwaffen einzusetzen, wenn die russische Staatlichkeit bedroht sei. Außerdem schloss der russische Präsident Atomwaffentests nicht aus, »wenn die USA mit Atomwaffentests beginnen«.

Wladimir Putin kündigte an, dass man das Steuersystem umstellen müsse. Die Zeit sei reif, von dem 2001 eingeführten linearen Steuersatz von 13 für Normal- bzw. 15 Prozent für Besserverdiener jetzt zu einer progressiven Besteuerung überzugehen. Sogar die Großverdiener hätten das jetzt erkannt. Die progressive Besteuerung auf Einkommen war in der Vergangenheit eine Kernforderung der Kommunistischen Partei und linker Wirtschaftswissenschaftler gewesen. Offenbar hat der Kreml erkannt, dass sich die steigenden staatlichen Ausgaben für die Armee und für die soziale Versorgung nicht allein aus den staatlichen Rücklagen finanzieren lassen.

veröffentlicht in: Junge Welt

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