18. March 2024

Wahlen in Russland: Ist Putins Sieg real oder eine Farce? (Nachdenkseiten)

Romashko Yuliia / Shutterstock
Foto: Romashko Yuliia / Shutterstock

18. März 2024 um 9:05 Ein Artikel von Ulrich Heyden

Nach der dreitägigen Wahl zur Präsidentschaft in Russland steht fest: Wladimir Putin hat die Abstimmung wie erwartet gewonnen. Der Amtsinhaber erhielt nach den Exit-Polls 87 Prozent der Stimmen, bei den Präsidentschaftswahlen 2018 hatte Putin noch 76 Prozent der Stimmen bekommen. Er wurde nun das fünfte Mal zum Präsidenten gewählt und kann bis 2030 regieren. Welche Reformen er in Russland anstrebt, hat Putin in seiner Rede vor der Föderalen Versammlung Ende Februar erläutert. Über die Wahl am Wochenende berichtet aus Moskau Ulrich Heyden.

Die Wahlbeteiligung lag offiziell bei 74 Prozent. Das ist die höchste Wahlbeteiligung, die es im nachsowjetischen Russland nach offiziellen Angaben je gegeben hat.

Die drei Kandidaten, die außer Putin zur Wahl standen, bekamen nach den Exit-Polls nur wenig Stimmen. Für den Kandidaten der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF), den 79 Jahre alten Nikolai Charitonow, stimmten 4,6 Prozent der Wähler. Bei den Duma-Wahlen 2021 bekam die KPRF noch 18 Prozent der Stimmen.

Auf einem Briefing der KPRF am Sonntagabend spielte die Parteiführung das niedrige Ergebnis ihres Kandidaten herunter und betonte, das Wichtigste für Russland sei in der Situation der militärischen Bedrohung durch die NATO-Staaten, dass der Oberkommandierende Putin die Unterstützung der Bevölkerung habe. Man tröstete sich auch damit, dass man sagte, man habe das Programm der KPRF mit zentralen sozialen Forderungen im Wahlkampf unter Millionen Menschen bekannt gemacht.

Für Leonid Sluzki, der für die rechtspopulistischen Liberaldemokraten (LDPR) kandidierte, stimmten nur drei Prozent der Wähler.

Der vierte Kandidat, der 39 Jahre alte Unternehmer Wladislaw Dawankow von der wirtschaftsliberalen Partei „Neue Leute“, bekam nach den Exit Polls 4,2 Prozent der Stimmen.

Starke Polizeipräsenz

Ich hatte in den letzten Tagen drei Wahllokale im Westen Moskaus besucht. Mir fiel auf, dass die Kontrollen vor den Wahllokalen wesentlich stärker waren als sonst. Man musste durch einen Metalldetektor gehen. Meine Umhängetasche wurde durchsucht. Am Sonntag sah ich im Wahllokal Nr. 2852, in dem ich nach meiner Registrierung als Korrespondent ungehindert filmen konnte, Polizisten mit Gummiknüppeln direkt neben den Wahlurnen stehen. Offenbar wollte man mit der starken Polizeipräsenz verhindern, dass in den Wahllokalen Störaktionen der Opposition stattfinden. Am Sonnabend waren Videos aufgetaucht, die zeigten, dass eine junge Frau in Moskau – offenbar aus Protest – eine farbige Flüssigkeit in eine Wahlurne geschüttet hatte. Sie wurde festgenommen. In St. Petersburg hatte ein Mann ein Wahllokal mit einem Molotow-Cocktail angegriffen.

Die staatlichen Einrichtungen in Moskau taten alles dafür, dass sich möglichst viele Menschen an den Wahlen beteiligen. In der Stadt wurde seit Wochen mit großen Plakaten für das Online-Wählen geworben. Moskau war eine von 28 russischen Regionen, bei denen nicht nur über Stimmzettel, sondern auch online gewählt werden konnte.

Wie die Leiterin der Zentralen Wahlkommission, Ella Panfilowa, jedoch am Sonntag mitteilte, sei sie froh, dass es das Online-Verfahren nur in 28 russischen Regionen gab. Denn überraschend hätten sich die DOS-Attacken auf die russischen Wahlserver bei der Präsidentschaftswahl 2024 verdoppelt. Man habe 280.000 Hacker-Attacken auf das Online-Wahl-System blockieren müssen. Gegen Russland werde nicht nur mit militärischem Gerät gekämpft, erklärte die Leiterin der Zentralen Wahlkommission.

Von einzelnen Wählern hörte ich, dass in Moskauer staatlichen Einrichtungen die Mitarbeiter aufgefordert wurden, ihre Stimme bei den Wahlen abzugeben. Angeblich mussten Mitarbeiter ein Foto von der Online-Bestätigung machen, dass sie gewählt hatten.

In Gesprächen in den Tagen der Wahl auf Straßen und in Wahllokalen stellte ich fest, dass es grob gesagt zwei Gruppen von Wählern gibt. Die Leute unter 45 Jahre und die Leute, die älter sind. Die Bürger über 45 wählen Putin, weil sie die 1990er Jahre in Erinnerung haben und anerkennen, dass Putin es war, der die russische Wirtschaft und das russische Staatswesen nach dem völligen Chaos in den 1990er Jahren wieder in Gang gebracht hat.

Ein weiteres Motiv, den Amtsinhaber zu wählen, war, dass die drei Kandidaten, die außer Putin zur Wahl standen, keine Leitungserfahrungen, geschweige denn Erfahrungen in der internationalen Politik vorweisen konnten. Aber diese Erfahrungen hat Putin, der zum einen durch die russischen Regionen reist und zum anderen trotz westlicher Sanktionen auch auf internationalem Parkett präsent ist.

Bei einem Teil der Jugendlichen zählen diese Qualitäten nicht. Sie wollen vor allem ein neues Gesicht an der Spitze Russlands sehen. Sie haben das Chaos der 1990er Jahre nicht erlebt. Viele Jugendliche, die in der Zeit groß geworden ist, als Russland von liberaler Ideologie geprägt war, wünschen sich eine Wahl, bei der alternativen Kandidaten mit Erfahrung die Teilnahme ermöglicht wird.

War die Präsidentschaftswahl eine „Farce“?

In vielen großen deutschen Medien muss die Tatsache, dass Wladimir Putin die Wahl haushoch gewinnen wird, als Beweis dafür herhalten, dass Russland eben eine Diktatur und die ganze Wahl eine Farce ist. Mit dieser Sichtweise wird unterstellt, dass Putins Macht eigentlich auf wackeligen Beinen steht und dass, wenn es in Russland keine politische Repression gäbe, Russland schon längst einen neuen Präsidenten hätte.

Aber wer soll Putin stürzen? Übergangen wird die Tatsache, dass nach der Invasion russischer Truppen in die Ukraine Hundertausende, darunter viele liberal gestimmte Oppositionelle, ins Ausland emigriert sind. Und selbst als diese Oppositionellen noch in Russland lebten, reichte ihre Kraft nicht für eine politische Bewegung, die mehr Menschen mobilisiert als einen Teil der liberal gestimmten Menschen in den russischen Großstädten.

Leider wird in vielen großen deutschen Medien etwas Naheliegendes nicht in Betracht gezogen, dass nämlich auch die militärische und psychologische Frontstellung des Westens gegen Russland – Stichwort Russophobie – dazu führt, dass Russland sich nach außen abschottet und Oppositionelle, die gegen den Krieg auftreten, als „ausländische Agenten“ brandmarkt und verfolgt.

Wer will, dass die Opposition in Russland mehr Luft zum Atmen bekommt, müsste zu allererst dafür eintreten, dass die westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine gestoppt und das Ziel, die Ukraine zum NATO-Mitglied zu machen, aufgegeben wird.

Mit der Sichtweise, die Wahl in Russland sei eine „Farce“ gewesen, wird auch ausgeblendet, dass russische Zivilisten und Soldaten seit zwei Jahren mit Waffen der westlichen Länder getötet werden.

Auch während der Wahl gingen die Angriffe weiter. Am 17. März starb in der russischen Stadt Belgorod in Folge ukrainischen Beschusses ein Mensch, elf Menschen wurden verletzt. Am Morgen des 17. März teilte das russische Verteidigungsministerium mit, man habe 35 ukrainische Drohnen über russischem Territorium außer Gefecht gesetzt. Der Bürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin, teilte mit, dass Moskau in der Nacht auf Sonntag von vier ukrainischen Drohnen angegriffen wurde.

Russische Soldaten sterben in der Ukraine durch von westlichen Staaten gelieferte Waffen. Fast täglich werden grenznahe Gebiete von Zentralrussland von ukrainischen Drohnen oder russischen Söldnern, die im Dienst von Kiew stehen, angegriffen. Hohe deutsche Militärs beraten darüber, wie man die Krim-Brücke zerstören kann, ohne dass eine Beteiligung Deutschlands an so einem Vorhaben nachweisbar ist.

Dass sich in einer Situation der militärischen Bedrohung von außen die Menschen um den Präsidenten scharen, ist für ein Land im Krieg normal. Es wäre, wenn Deutschland von außen angegriffen würde, wohl ähnlich.

Stimmen für „den einzigen Anti-Kriegs-Kandidaten“

Die Unzufriedenheit über eine reale Wahlalternative zu Putin führte schließlich dazu, dass sich verschiedene Lager der Opposition von liberal bis links entschlossen, am dritten Wahltag um zwölf Uhr in die Wahllokale zu gehen, um dort die ausgehändigten Wahlzettel ungültig zu machen oder für den Kandidaten Wladislaw Dawankow zu stimmen.

Der Präsidentschaftskandidat Wladislaw Dawankow von der Partei „Neue Leute“ war in einer Wahlsendung im Fernsehkanal „Das Erste“ für ein schnelles Ende des Ukraine-Krieges eingetreten. Er hatte erklärt, er wisse von seinen ehemaligen Kommilitonen, die jetzt als Soldaten in der Ukraine sind, dass sie „so schnell wie möglich nach Hause wollen“. Je eher man mit Kiew verhandele, „desto besser“.

Welche Position gab es zu den Wahlen bei den unabhängigen Linken? In dem von Boris Kagarlitsky gegründeten Internet-Portal Rabkor gab es drei verschiedene Vorschläge zu den Präsidentschaftswahlen. Der erste Vorschlag war, bei der Wahl den KPRF-Kandidaten Nikolai Charitonow zu unterstützen. Die KPRF sei „die einzige Oppositionspartei mit einem sozial orientierten Programm“.

Eine zweite Position wurde von dem Politologen Aleksandr Kynew vertreten. Er rief dazu auf, sich nicht an provokativen Aktionen in Wahllokalen zu beteiligen und stattdessen den Kandidaten Wladislaw Dawankow von der Partei „Neue Leute“ zu wählen. Dawankow sei der einzige Kandidat, der „gegen den Krieg“ sei.

Der bekannte linke Moskauer Universitäts-Professor Michail Lobanow argumentierte gegen eine Wahlunterstützung für Dawankow. Seine Kandidatur sei vom Kreml eingefädelt worden. Nur das Ungültigmachen der Stimmzettel könne den Protest gegen den Krieg in der Ukraine zum Ausdruck bringen.

Dagegen argumentierte wiederum der Politologe Kynew, ein Ungültigmachen der Stimmzettel zeige statistisch nicht den realen Protest, weil es unter ungültigen Wahlzetteln auch viele Wahlzettel geben werde, die aus nicht politischen Gründen ungültig seien.

Warum Wahlen in Kriegszeiten?

Natürlich stellt sich die Frage, ob es in einer Kriegszeit überhaupt Sinn macht, eine Wahl zu veranstalten. Denn natürlich unterliegt ein Wahlkampf in Kriegszeiten erheblichen Einschränkungen. Dass sich die russische Führung dazu entschlossen hat, Wahlen durchzuführen, hängt wohl damit zusammen, dass man alle Sektoren der russischen Gesellschaft noch enger um Wladimir Putin scharen wollte. Außerdem wollte man demonstrieren, dass Russland an demokratischen Grundsätzen festhält, im Gegensatz zur Ukraine, wo keine Wahlen stattfinden.

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

Teilen in sozialen Netzwerken
Bücher
Foto