15. December 2023

Maulkorb für Marxisten (Junge Welt)

Auf der Liste »ausländischer Agenten« und »Terrorförderer«: Der Marxist und Publizist Boris Kagarlizki (M., Syktywkar, 12.12.2023), Nataliya Kazakovtseva-TASS/IMAGO
Foto: Auf der Liste »ausländischer Agenten« und »Terrorförderer«: Der Marxist und Publizist Boris Kagarlizki (M., Syktywkar, 12.12.2023), Nataliya Kazakovtseva-TASS/IMAGO

Aus: Ausgabe vom 16.12.2023, Seite 6 / Ausland

PRESSEFREIHEIT

Russland: Linker Soziologe Kagarlizki aus Haft entlassen. Vorwurf der Terrorunterstützung bleibt bestehen

Von Ulrich Heyden, Moskau

Die Freude unter russischen Linken und Linksliberalen über die Freilassung von Boris Kagarlizki ist groß. Am 12. Dezember fällte ein Militärgericht in der Stadt Syktywkar das Urteil zur Freilassung. Das Gericht tagte unter Ausschluss der Presse. Kagarlizki war Chefredakteur der Internetzeitung Rabkor und Leiter des gleichnamigen Youtube-Kanals. Er saß seit Ende Juli dieses Jahres in der nordrussischen Republik Komi wegen »Rechtfertigung von Terrorismus« in Haft und wurde im Gerichtssaal aus ihr entlassen. Allerdings wurde der Chefredakteur, Soziologe und Hochschullehrer zu 6.000 Euro Strafe wegen »Rechtfertigung von Terrorismus« verurteilt. Außerdem wurde ihm für zwei Jahre untersagt, als Herausgeber für die Rabkor-Portale tätig zu werden.

Bekannte Fürsprecher

Gegenüber der regierungsnahen Nachrichtenagentur TASS erklärte Kagarlizki, das Urteil sei »in jedem Fall ein Sieg des gesunden Menschenverstandes. Die Anfechtung des Urteils sei juristisch möglich«. Er sei unschuldig. Im November hatte das Gericht seine Haftzeit um ein halbes Jahr verlängert. Alle Anträge des Anwaltes, seinen Mandanten aus der Haft zu entlassen, weil er unter Bluthochdruck leide und keine Fluchtgefahr bestehe, waren abgelehnt worden.

Kagarlizki ist durch zahlreiche Vortragsreisen in Europa und darüber hinaus bekannt. Für seine Freilassung hatten sich bekannte Linke wie der ehemalige Labour-Chef Jeremy Corbyn ausgesprochen. Auf dem Waldai-Forum in Sotschi im Oktober bat die kanadische Politologin Radhika Desai den russischen Präsidenten, sich um das Schicksal von Kagarlizki zu kümmern. Desai erklärte, sie habe im Westen umlaufende Aufrufe zu seiner Freilassung nicht unterschrieben, weil sie »antirussisch« seien. Sie habe aber einen eigenen Brief zu dem Fall an Wladimir Putin geschrieben. Dieser erklärte, er kenne Kagarlizki nicht, versprach aber, er werde den Brief lesen.

Zu dem Strafverfahren gegen Kagarlizki war es gekommen, nachdem Rabkor im Oktober 2022 ein Youtube-Video zum ukrainischen Anschlag auf die neue Krimbrücke veröffentlicht hatte. Titel: »Explosiver Glückwunsch des Katers Mostik«. »Mostik« heißt ein Kater, den die Arbeiter, die die Brücke gebaut haben, zu ihrem Maskottchen erklärten. In dem später gelöschten Video werden Gründe und Folgen des Terroranschlags analysiert, und es wird die Meinung vertreten, dass er für die Gegner Russlands keine guten Folgen haben werde. Die Staatsanwaltschaft wertete die Überschrift als »Unterstützung von Terrorismus«. Auf Telegram hatte Kagarlizki im Oktober 2022 ausgeführt, der Anschlag auf die Krimbrücke treffe ein Prestigeobjekt der »Putinschen Macht«. Eine Verurteilung des Anschlags und Beileid für die vier Zivilisten, die bei ihm getötet worden waren, suchte man in dem Post vergeblich. Das war fragwürdig, aber keine »Rechtfertigung von Terrorismus«.

Wendung gegen Putin

Der Chefredakteur von Rabkor argumentierte vor Gericht, die Überschrift für das Youtube-Video sei spontan entstanden. Sie habe vor allem Aufmerksamkeit wecken sollen. Eine Absicht, den Terrorismus zu unterstützen, habe die Staatsanwaltschaft nicht beweisen können. Außerdem habe er sich immer gegen Terrorismus ausgesprochen. Kagarlizki ist seit seiner Studentenzeit in den 1980er Jahren in sozialistischen Zirkeln politisch aktiv und saß wegen »antisowjetischer Tätigkeit« 1982 ein Jahr lang in Haft.

Der Marxist Kagarlizki ist seit 1992 häufig von jW interviewt worden. 2018, nachdem Putin entgegen vorherigen Versprechungen einer Erhöhung des Renteneintrittsalters zugestimmt hatte, ging der Rabkor-Chefredakteur in scharfe Opposition zur Staatsführung. Die russische »Spezialoperation« in der Ukraine lehnte er ab, äußerte aber nur vorsichtig Kritik, um nicht mit den Gesetzen in Konflikt zu kommen. Was auch auffiel, war, dass Kagarlizki die Ostausdehnung der NATO und die Rolle der USA beim Staatsstreich in Kiew nicht mehr thematisierte.

Kagarlizki ist jetzt zwar in Freiheit, aber unter erschwerten Bedingungen. Zum einen wurde er 2018 wegen Geldeinkünften von der Rosa-Luxemburg-Stiftung als »ausländischer Agent« gelistet. Zweitens wurde er während seiner Haft auf die Liste der »Terroristen und Extremisten« gesetzt. Der linke Videoblogger und ehemalige USA-Korrespondent des Fernsehkanals Rossija, Konstantin Sjomin, meinte: »Vielleicht ist das Urteil ein demonstratives Zeichen, dass es noch Reste von Rechtsprechung in Russland gibt.«

veröffentlicht in: Junge Welt

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