3. May 2022

Meer von roten Fahnen (Junge Welt)

Zwischen Kreml und Bolschoi-Theater: Kundgebung der KPRF auf dem »Platz der Revolution« in Moskau am 1. Mai, Maxim Shemetov/REUTERS
Foto: Zwischen Kreml und Bolschoi-Theater: Kundgebung der KPRF auf dem »Platz der Revolution« in Moskau am 1. Mai, Maxim Shemetov/REUTERS

Aus: Ausgabe vom 03.05.2022, Seite 7 / Ausland

KAMPFTAG DER ARBEITERKLASSE

Meer von roten Fahnen

1.-Mai-Kundgebung der KPRF in Moskau: 30 Minuten für den proletarischen Internationalismus

Von Ulrich Heyden, Moskau

Der 1. Mai in Russland wird vom russischen Gewerkschaftsdachverband FNPR traditionell als fröhliches Frühlingsfest mit gemäßigten sozialen Forderungen begangen. Dieses Jahr wurde der Feiertag allerdings politisch. In vielen Städten demonstrierten die Gewerkschaften unter der Parole »Für Frieden, für Arbeit, für Mai!« Auf Russisch wurde das weiche »S« (з) des Wortes »sa« (deutsch »für«) durch ein lateinisches »Z« ausgetauscht. Mit diesem Buchstabentausch demonstrierten die Gewerkschaften ihre Unterstützung für die russischen Streitkräfte, die in der Ukraine seit zwei Monaten nach eigenem Bekunden gegen das Vordringen der NATO und den Neonazismus kämpfen.

In Moskau hatte die Stadtverwaltung am 1. Mai – angeblich wegen der Coronagefahr – keine Großveranstaltungen zugelassen. Dabei war die Maskenpflicht in Moskau schon vor zwei Monaten – parallel zum Kriegsbeginn – offiziell gekippt worden.

Die russischen Kommunisten, die den 1. Mai bis zum Beginn der Coronapandemie traditionell mit bis zu 10.000 Teilnehmern starken Demonstrationen begingen, mussten sich dieses Jahr in Moskau auf eine dreißigminütige Kurzkundgebung beschränken, die als »Gespräch mit Abgeordneten« angemeldet worden war.

Seit den Duma-Wahlen im September 2021, deren Ergebnisse von der KPRF wegen zahlreicher Unregelmäßigkeiten angefochten wurden, hat sich das Klima zwischen dem Kreml und der größten russischen Oppositionspartei verschlechtert. Wegen »unerlaubten Protesten« gab es gegen Kommunisten zahlreiche Verwarnungen und Festnahmen.

Demoverbot in Provinz

Auch in der Provinz hatten die Kommunisten an diesem 1. Mai Schwierigkeiten damit, Veranstaltungen abzuhalten. In der sibirischen Stadt Kirow wollte die Stadtverwaltung die Kundgebung verbieten. Erst nach der Entscheidung eines örtlichen Gerichtes konnte die KPRF in Kirow ihre Kundgebung abhalten. In der im nordrussischen Karelien gelegenen Stadt Petrosawodsk untersagte die Stadtverwaltung aus Gründen »der Sicherheit« den Kommunisten die Durchführung einer Demonstration. Nur Blumen am Lenin-Denkmal durften niedergelegt werden.

In Moskau war wenigstens der Ort der KPRF-Kurzkundgebung nach dem Geschmack linker Demonstranten. Man versammelte sich auf dem zwischen dem Kreml und dem Bolschoi-Theater gelegenen »Platz der Revolution« am Fuße eines mehrere Meter hohen Karl-Marx-Denkmals aus grauem Granit. 1.500 Menschen standen dort in einem Meer von roten Fahnen. Für eine Stadt mit 14 Millionen Einwohnern war die Teilnehmerzahl äußerst gering.

heyden.jpg

Ulrich Heyden

Gennadi Sjuganow war Hauptredner auf der Kundgebung der KPRF in Moskau am 1. Mai

Die Kundgebungsteilnehmer – unter ihnen vor allem Menschen mittleren Alters, aber auch Jugendliche – hielten rote Organisationsfahnen, das waren die Fahnen der KPRF mit Hammer und Sichel, die Fahnen der Linken Front mit einem weißen Stern und Fahnen der »Bewegung für einen neuen Sozialismus« mit einer aufgehenden Sonne und einer Möwe. Der Gründer der Bewegung, der ehemalige Diplomat Nikolai Platoschkin, stand mit auf der Rednertribüne, sprach aber nicht. Unter den Demonstranten stand auch ein Block der trotzkistischen »Revolutionären Arbeiterpartei«.

Cuba Sí

Die Kundgebung in Moskau wurde von einer kämpferischen Rede des KPRF-Vorsitzenden Gennadi Sjuganow eingeleitet. »Die Angelsachsen haben uns den Hybridkrieg erklärt«, erklärte der 77jährige Vorsitzende, der die Partei seit 1993 leitet. »An allen Fronten, von den Finanzen über die Wirtschaft, den Technologien bis zur Ukraine, wo unter Leitung des (US-Auslandsgeheimdienstes) CIA und der Bandera-Leute (Stepan Bandera, ukrai­nischer Faschist, 1909–1959, jW) beschlossen wurde, den friedliebenden Donbass zu okkupieren.«

In der Ukraine sei es »den Angelsachsen gelungen, die Bevölkerung mit dem Nationalismus zu vergiften«. Es sei ein Krieg »gegen die russische Welt«.

Russland versuche mit der Militäroperation in der Ukraine drei Aufgaben zu erfüllen. Zunächst gehe es darum, eine multipolare Welt aufzubauen. Bei einem Frieden unter US-Oberhoheit sei der nächste Krieg »vorprogrammiert«. Außerdem kämpfe Russland in der Ukraine für »die russische Welt«, die in den Plänen der Angelsachsen »nicht vorkommt«. Das Ziel der USA sei es, Russland »zu liquidieren«.

Lenin muss sichtbar sein

Sjuganow wandte sich von der Rednertribüne an den russischen Präsidenten mit der Aufforderung, das Lenin-Mausoleum bei der Militärparade am 9. Mai nicht wie in den vergangenen Jahren mit Platten abzudecken. Mit diesen Platten versuche sich »die fünfte Kolonne« – gemeint sind die Liberalen in der russischen Regierung – von der »sowjetischen Epoche«, den Generälen und Stalin abzuschotten, die den Sieg über Hitler-Deutschland 1945 organisiert haben. Man dürfe nicht vergessen, dass bei der Siegesparade 1945 Rotarmisten 200 eroberte Flaggen der Hitler-Wehrmacht vor das Mausoleum warfen, als Zeichen, dass der Sozialismus über den Faschismus siegt.

Sjuganow äußerte die Hoffnung, dass Präsident Wladimir Putin die Zeichen der Zeit erkannt habe, als er im Oktober 2021 auf dem Waldai-Forum erklärt hatte, dass der Kapitalismus in eine Sackgasse geraten sei. Putin hatte auf dem Forum erläutert, »das bestehende Modell des Kapitalismus« sei »am Ende«. Dieses System habe sich in »Widersprüche verstrickt«. Selbst in den reichen Ländern verstärke sich die »ungerechte Reichtumsverteilung«, was zu »aggressiven Reaktionen« in der Bevölkerung führe und sich unter anderem bei den Protesten gegen die Coronabeschränkungen gezeigt habe.

Ulrich Heyden 2022- Kopie.jpg

Ulrich Heyden

Anastasia Udalzowa, Sprecherin der Linken Front, auf der Mai-Kundgebung der KPRF in Moskau

Die radikalste Rednerin auf der KPRF-Kundgebung in Moskau war Anastasia Udalzowa, die Koordinatorin der Linken Front. Sie erklärte unter zustimmenden Rufen der Teilnehmer, es gehe heute nicht nur darum, das Eigentum der russischen Oligarchen zu nationalisieren, sondern eine »national gesinnte Elite auszubilden«, die nicht bei der erstbesten Gelegenheit mit Geld das Land verlässt.

Zurückhaltende Kritik

Von der Linken Front war auch zurückhaltende Kritik am militärischen Einmarsch in der Ukraine zu hören. Der Leiter der Linken Front, Sergej Udalzow, erklärte am Rande der KPRF-Kundgebung, die Proletarier müssten »auch in Russland und der Ukraine ihre Klasseninteressen erkennen« und »sich nicht in einem unendlichen Krieg gegenseitig abschlachten«. Immerhin seien das Menschen, die früher friedlich in einem Land gelebt hätten.

Die Menschen im Donbass hätten »das Recht auf Unabhängigkeit und das Recht, in ihrer Sprache zu sprechen«, aber die russische Macht habe leider auch »eigennützige Ziele«. Mit einem erfolgreichen Krieg wolle man die »Popularität der Regierung steigern«.

Der Krieg im Donbass sei »schwierig und nicht ganz richtig«. »Das Kapital entscheidet heute seine Probleme, und friedliche Menschen sterben.« Nicht alle Menschen in der Ukraine seien Faschisten, wie es die russische Propaganda behaupte.

Am Rande der Kundgebung kam ich mit einigen männlichen Kommunisten ins Gespräch. Einer von ihnen ist Leiter eines Moskauer Parteibezirks und verdient sein Geld im Reklamegeschäft. Auf die Frage, was er vom Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine halte, antwortet der Mann, er habe – wie auch andere in der Partei – seine Zweifel gehabt, ob das richtig war. Aber jetzt, wo die russische Armee sich schon in der Ukrai­ne befinde, sei klar, dass man siegen müsse. Das sei im übrigen »kein Krieg gegen die Ukraine, sondern ein Krieg zwischen Russland und den USA und deren Verbündeten«.

veröffentlicht in: Junge Welt

Teilen in sozialen Netzwerken
Bücher
Foto