19. April 2024

Neue Wege in der russischen Wirtschaft, dargestellt am Beispiel einer Kosmetik-Fabrik (Nachdenkseiten)

19. April 2024 um 10:00Ein Artikel von Ulrich Heyden

Russische Unternehmen, die Kosmetik produzieren, mussten sich in den letzten zwei Jahren umstellen. Wegen der westlichen Sanktionen können diese Unternehmen keine Rohstoffe mehr aus der EU beziehen, und Kosmetik aus Russland kann auch nicht mehr in der EU verkauft werden. Das betrifft auch den russischen Kosmetik-Produzenten Arnest. Rohstoffe, die bisher aus der EU kamen, bekommt das Unternehmen jetzt aus Asien, und der Export von Arnest-Kosmetik geht jetzt in Staaten, die entspannte Beziehungen zu Russland haben. Ulrich Heyden berichtet über einen Besuch in der in Südrussland gelegenen Arnest-Fabrik.

Das Unternehmen mit seinen 1.000 Mitarbeitern produziert in einer steuervergünstigten Zone in der Stadt Newinnomyssk, im Gebiet Stawropol.

Anatoli Desjatnitschenko ist Geschäftsführer der Arnest-Fabrik in Newinnomyssk. In der Eingangshalle der Fabrik berichtet der groß gewachsene Mann einer Gruppe ausländischer Korrespondenten gutgelaunt, wie man die Folgen der westlichen Sanktionen abgefedert hat. Nach einem Produktionseinbruch im Mai 2022 habe die Produktion „schon fast wieder das Niveau erreicht, welches wir vor 2022 hatten. Unsere Produktionsanlagen werden von mehr und mehr Auftraggebern genutzt.“ Dazu muss man wissen: Arnest produziert nicht nur eigene Marken wie die schon in Sowjetzeiten bekannte Haarlack-Marke „Prelest“ (Lieblichkeit), sondern seit 2000 auch für westliche Kosmetik-Konzerne.

Ich gehörte zu der Korrespondenten-Gruppe, die dem Geschäftsführer zuhörte. Und ich möchte hier darüber berichten, was wir in der Arnest-Fabrik gesehen haben. Denn was erfährt man in Deutschland heute schon über die reale russische Wirtschaft? Die Reise zur Arnest-Fabrik und anderen Wirtschaftsobjekten im Gebiet Stawropol hatte das russische Außenministerium organisiert. Der Geschäftsführer erzählte, „wir haben das gesamte Spektrum der europäischen Sanktionen zu spüren bekommen, weil der Großteil der chemischen Stoffe für die Produktion aus Europa kam. Jetzt wird ein Teil der chemischen Vorprodukte in Russland hergestellt oder aus Asien importiert.“ Aus Russland kommen für die Sprayflaschenproduktion Alkohol, Treibgas und Aluminium. Weitere Rohstoffe – wie Polymere – werden „aus Asien und befreundeten Ländern“ importiert.

Früher hat man nach Europa und Südamerika exportiert. „Heute exportieren wir nach Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Aserbaidschan. Und wir beginnen jetzt mit dem Export auf den afrikanischen Markt.“

Auftragsproduktionen für 20 verschiedene Kunden

Das 1971 gegründete Unternehmen Arnest hat einen führenden Platz am russischen Kosmetik-Markt. 1993 wurde das Unternehmen privatisiert und in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Ab 2000 produzierte Arnest den Haarlack „Taft“ von Henkel. Nach Angaben russischer Wirtschaftsprüfer produzierte Arnest 2023 noch für die Firmen Procter & Gamble, Unilever, Beiersdorf und Colgate-Palmolive.

Geschäftsführer Desjatnitschenko erklärt uns, dass man jetzt für 20 Kunden Auftragsproduktionen ausführe. Um die Kunden nicht zu schädigen, bittet man uns, in den Produktionshallen nur an genehmigten Stellen zu fotografieren.

Bei unserem Rundgang durch das Betriebsgelände besuchen wir eine Halle, in der Stoffe für die Kosmetik-Produktion gewogen und gemixt werden. Es steigt kein Dampf auf. Alles sieht steril und sehr gepflegt aus. Der Geschäftsführer berichtet, „die Auftraggeber kommen mit ihrem Design und ihrer Marke. Der Auftraggeber stellt uns seine Idee vor und wir setzen diese Idee um“.

2023 produzierte Arnest noch für Beiersdorf

In einer der Produktionshallen kommen wir an einem Informationstand vorbei, dessen gläserne Regale mit Sprayflaschen europäischer Firmen wie Beiersdorf, L‘Oreal und Oriflame gefüllt sind.

Als ich nach meiner Reise in den Süden Russlands bei der Beiersdorf-Zentrale in Hamburg nachfragte, ob es noch Auftragsproduktionen in Newinnomyssk gibt, erklärte die Unternehmenssprecherin Karolin Köhler, „in 2023 hat Arnest für Beiersdorf Deosprays und Rasierschäume produziert. Der Vertrag lief im August 2023 aus“.

Beiersdorf ist durch die Sanktionen gegen Russland in eine schwierige Situation gekommen. Das Unternehmen will seine starke Position am russischen Markt nicht aufgeben, musste aber im Russland-Geschäft einen Gang zurückschalten. Wie die Unternehmenssprecherin mitteilte, wurden „seit Anfang März 2022 unsere Geschäftsaktivitäten von La Prairie und tesa in Russland komplett eingestellt“. Das Produktportfolio von NIVEA und Eucerin habe man um 65 Prozent reduziert.

Gegenüber der WirtschaftsWoche erklärte Beiersdorf Anfang 2023: „Wir halten die Sanktionen in vollem Umfang ein und verfügen über die geeigneten Arbeitsmethoden, um unsere Geschäfte in Russland im Rahmen der Sanktionen und trotz des sehr schwierigen Umfelds zu führen.“

In Russland ist Beiersdorf mit der in Moskau registrierten Handelsfirma „OOO Beiersdorf“ registriert. „OOO“ bedeutet „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Die Firma hatte 2023 nach Angaben russischer Wirtschaftsprüfer Einnahmen in Höhe von 193 Millionen Euro. Die Einnahmen seien 2023 um 35 Prozent höher gewesen als im Vorjahr.

Um Argumente für das Russland-Geschäft nicht verlegen

Das Handelsblatt kommt in einer Analyse vom Februar 2024 zu dem Schluss, dass „die meisten deutschen Unternehmen, die vor Kriegsbeginn Verbindungen zu Russland hatten“, dort „noch immer Geschäfte“ machen.

Bekannte deutsche Automobilmarken haben zwar ihre Produktion in Russland gestoppt, aber ein großer Teil der Unternehmen, die für den alltäglichen Bedarf produzieren, sind noch im Russland-Geschäft aktiv, wie die WirtschaftsWoche im Februar 2023 berichtete. Nur Werbung im russischen Fernsehen werde nicht mehr geschaltet.

Um Argumente, warum man im viel gescholtenen „Reich des Bösen“ weiterhin Geschäfte machen kann, sind die westlichen Unternehmer nicht verlegen. Der Chef des deutschen Käse-Produzenten „Hochland“, Peter Stahl, erklärte gegenüber dem Handelsblatt: „Aus unserer verantwortungsethischen Sicht hat der Verbleib eines deutschen Nahrungsmittelunternehmens in Russland aber keinerlei Einfluss auf den Kriegsverlauf oder Putins Entscheidungen.“

Der Nahrungsmittelkonzern Nestlé erklärte gegenüber Medien, der Konzern habe sein Portfolio „drastisch reduziert“. Die verbleibenden Geschäfte konzentrierten sich darauf, „die Menschen vor Ort mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen“.

Der Chef des deutschen Großhandel-Konzerns Metro, Steffen Greubel, erklärte im Februar 2024 gegenüber der DPA, es sei nicht im eigenen Interesse, „das Geschäft Oligarchen aus dem Umfeld der russischen Regierung zu überlassen“. Metro gehören in Russland 89 Großhandelsmärkte.

Meterhohe Stapel von Aluminium-Barren

Doch zurück zur Kosmetik-Fabrik Arnest in Südrussland. Ein Bus, der uns über das 25 Hektar große Werksgelände bringt, stoppt an einer Halle, vor der meterhoch Aluminiumbarren gestapelt sind. Sie kommen von dem russischen Produzenten Rusal. In der Halle steht ein riesiger Schmelzofen, in dem die Aluminium-Barren bei 1.000 Grad Hitze geschmolzen werden. Mit dem flüssigen Aluminium werden kleine, drei Zentimeter große Taler gepresst, aus denen dann in einer Presse mit einem Druck von 400 Tonnen Sprayflaschen gepresst werden.

Metallbörse in London bestimmt Aluminiumpreis

Ich frage einen unserer Begleiter, wie der Preis für Aluminium heute ermittelt wird. Der Mitarbeiter antwortet, der Preis von Aluminium in Russland werde durch die Rohstoffbörse in London bestimmt. Russland ist also wirtschaftlich nicht autonom.

In der nächsten Halle werden die Rohkörper der Spray-Flaschen beschnitten, gereinigt und von außen bedruckt. In der Halle sind moderne Maschinen von den baden-württembergischen Herstellern „Hinterkopf“ und „mall herlan“ sowie Maschinen aus den USA, der Schweiz und Italien zu sehen.

Arnest-Geschäftsführer: „Westliche Produktionsanlage selbst montiert“

Kurz vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine wurde noch eine neue Produktionslinie von einer westlichen Firma geliefert, berichtet einer der Mitarbeiter, die unsere Gruppe begleiten. „Wir haben die Produktionslinie dann ohne die Hilfe des Lieferanten aufgebaut.“ Wie das denn möglich war, fragte ich nach. „Wir haben schon zehn solche Produktionslinien mit jeweils 20 Maschinen verschiedener Hersteller. Wir haben in den letzten zehn Jahren jedes Jahr eine neue Produktionslinie gekauft.“ Bei der Aufstellung der ersten Produktionslinie hätten noch Mitarbeiter der deutschen Firma die Aufsicht geführt.

Ich fragte den Arnest-Geschäftsführer, wie es mit den Ersatzteilen für die aus Europa importierten Maschinen aussieht. Desjatnitschenko antwortete, damit habe man keine Probleme. Der Maschinenpark sei auf dem neuesten Stand und Ersatzteile habe man genug. „Außerdem stellen wir selbst Ersatzteile her. Elektronik bekommen wir aus Asien. Für die Programmierung gibt es genug russische Spezialisten.“

Produktion rund um die Uhr

Die Produktion in der Arnest-Fabrik läuft rund um die Uhr. Eine Arbeitsschicht ist zwölf Stunden und die Wochenarbeitszeit 36 bis 40 Stunden lang. Der Durchschnittsverdienst für die 1.000 Mitarbeiter liegt bei durchschnittlich 550 Euro. Das ist nicht viel. Allerdings liegen die Lebenshaltungskosten in der russischen Provinz niedriger als in den russischen Großstädten.

Der Geschäftsführer berichtet, dass es in der Fabrik eine Gewerkschaft gibt, welche einen Tarifvertrag ausgehandelt hat. Für die Arbeiter an Arbeitsplätzen mit erhöhter gesundheitlicher Belastung gäbe es zahlreiche Vergünstigungen.

Arnest kaufte Fabriken und Brauereien westlicher Firmen

Die Firma Arnest machte in den letzten zwei Jahren Schlagzeilen weit über Südrussland hinaus. Die Kosmetik-Firma kaufte Fabriken und Brauereien ausländischer Firmen auf. 2023 kaufte Arnest für 25 Millionen Euro die nahe Moskau gelegene Fabrik der schwedischen Kosmetikfirma Oriflame.

Arnest-Chef Aleksej Sagal kann es sich leisten, Fabriken zu kaufen. Er steht auf der Liste der Russen mit den höchsten Einkommen an Dividenden auf Platz 34. Im Jahr 2022 hatte Sagal Einkünfte an Dividenden in Höhe von umgerechnet 86 Millionen Euro. „Durch die geopolitische Situation“ habe sich das Geschäftsfeld der Gruppe Arnest seit 2022 ausgeweitet, schreibt das russische Wirtschaftsportal RBK.

Die Gruppe Arnest habe von der US-amerikanischen Ball Corporation das größte Unternehmen in Russland zur Herstellung von Aluminiumdosen gekauft.

Dem niederländischen Unternehmen Heineken kaufte Arnest alle seine sieben Brauereien in Russland mit 1.800 Beschäftigen ab. Der Kaufpreis lag bei einem Euro. Allerdings übernahm Arnest beim Kauf der Heineken-Brauereien auch die Schulden des Unternehmens in Russland in Höhe von 100 Millionen Euro.

Bundesregierung lieferte falsche Prognosen

Dass sich westliche Kosmetik-Unternehmen aus dem russischen Markt zurückziehen, hat – so der Arnest-Chef Sagal gegenüber dem russischen Business-Portal RBK – zu einer Ausweitung des russischen Markanteils geführt. Der Anteil russischer Firmen, die bei Arnest Produktionsaufträge für russische Kosmetik aufgeben, sei von 30 Prozent (2021) auf 70 Prozent (2023) gestiegen.

Während der Marktanteil russischer Kosmetikmarken in Russland 2022 bei 20 Prozent und der Anteil ausländischer Marken bei 80 Prozent lag, liege der russische Marktanteil heute bei 50 Prozent.

Wie auch in anderen Wirtschaftsbereichen haben die russischen Unternehmer im Bereich der Kosmetik-Produktion trotz Sanktionen einen Ausweg gefunden, setzen die Produktion fort und weiten ihre Geschäftsbereiche sogar noch aus. Von so einer Möglichkeit wollte die Bundesregierung im Frühjahr 2022 nichts wissen. Aber um die Deutschen gegen Russland aufzubringen, waren einfache, furchterregende Schwarz-Weiß-Bilder nötig.

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

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