28. June 2023

Wie konnte es so weit kommen? Fragen in russischen Talk-Shows zu dem gescheiterten Putschversuch (Nachdenkseiten)

Screenshot: Solowjow live
Foto: Screenshot: Solowjow live

Ein Artikel von Ulrich Heyden

In einigen Sendungen der großen russischen Fernsehanstalten wird durchaus kritisch über den Putschversuch am Samstag diskutiert. Die Position von Präsident Wladimir Putin wird nicht infrage gestellt. Aber in einigen Sendungen stellt man sich Fragen, die in der Bevölkerung diskutiert werden, zum Beispiel: Wie konnte es so weit kommen? Am Sonnabend und am Dienstag fragte der bekannteste russische Talkmaster, Wladimir Solowjow, in seiner Sendung Personen, die in den russischen Talk-Shows einen festen Platz haben und einem Millionen-Publikum bekannt sind, zu ihrer Einschätzung über den Putschversuch. Die Antworten der Befragten habe ich hier stichwortartig wiedergegeben. Sie können das Bild über den Putschversuch, über den in Deutschland oberflächlich und falsch unter dem Stichwort „Putins Macht bröckelt“ berichtet wird, ergänzen. Von Ulrich Heyden, Moskau.

Der Filmregisseur

Der Filmregisseur Karen Schachnasarow (Jahrgang 1952) fragte, wie es sein könne, dass sich der Konflikt zwischen dem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin und dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schojgu über mehrere Monate hinzog. Wenn der Präsident davon gewusst hätte, „dann hätte er wohl Jemanden entlassen oder die Streitenden versöhnt“, so der Regisseur. Schachnasarow mahnte an, dass der Oberkommandierende – also Wladimir Putin – „alle Informationen bekommt“.

Der Filmregisseur forderte, dass Russland seine Zwiespältigkeit überwinden müsse. Schachnasarow spielte offenbar auf die Tatsache an, dass der russischen Bevölkerung bis heute nicht überzeugend vermittelt werden konnte, warum sich die russische Armee aus den Gebieten Kiew, Charkow und Cherson zurückgezogen hat. Der Regisseur sagte, es müsse die Frage geklärt werden, „kämpfen wir oder kämpfen wir nicht?“.

Schachnasarow erklärte, das System mit den privaten Sicherheitsfirmen sei bisher gut gelaufen, jetzt müsse man es aber ändern. Man müsse „die Rote Armee“ schaffen, was wohl bedeuten sollte, dass man sich von autonom agierenden privaten Sicherheitsfirmen verabschieden muss.

Außerdem meinte er, es sei merkwürdig, dass in einer Zeit, in der russische Soldaten in der Ukraine gegen eine von den USA aufgerüstete ukrainische Armee kämpfen, das russische Kulturministerium einen amerikanischen Kriegsfilm zur Aufführung genehmigt.

Man könne – so der Regisseur – hoffen, dass der Westen nach dem Putschversuch verstanden habe, dass es auch nicht gut ist, wenn in Russland – einem Land mit Atomwaffen – Bürgerkrieg und Chaos herrschen.

Der in Moskau geborene Israeli

In der Solowjow-Sendung trat auch Jakow Kedmin (Jahrgang 1947) auf. Der israelische Staatsbürger kommentiert häufig in russischen Politik-Sendungen. Er vertritt patriotisch-russische Positionen. Kedmin wurde 1947 in Moskau geboren und wanderte 1969 nach Israel aus. Als israelischer Staatsbürger arbeitete er von 1977 bis 1999 in der staatlichen israelischen Organisation „Nativ“, die für die Übersiedlung von ehemaligen Sowjetbürgern nach Israel zuständig war.

In der Talk-Show bei Solowjow erklärte Kedmin, Grund für den Konflikt mit den Wagner-Leuten sei „zu viel Nachsicht“. Er fragte, warum man den „Abenteurer“ Prigoschin nicht eher gestoppt habe. Es habe schon ähnliche Fälle gegeben, wo für den russischen Staat großer Schaden entstanden sei und die Macht „zu nachsichtig war“. Als Beispiel nannte Kedmin Anatoli Tschubais, der Anfang der 1990er Jahre für die Privatisierung der russischen Staatsbetriebe zuständig war.

Zuviel Nachsicht habe es auch gegenüber Anatoli Serdjukow gegeben, der von 2007 bis 2012 russischer Verteidigungsminister war und einen großen Teil der russischen Armee-Immobilien verkaufte hatte, was in Teilen des russischen Militärs auf heftige Kritik stieß.

„Prigoschin meinte, ihm ist alles erlaubt“, sagte Kedmin. Er habe sich als „kleiner Zar“ aufgeführt. Der Chef der privaten Sicherheitsfirma Wagner versuchte, „seine persönlichen Probleme mit dem russischen Verteidigungsministerium über Erpressung zu lösen“. Das sei „unzulässig für einen Rechtsstaat“. Man habe Prigoschin zu spät gezwungen, mit dem russischen Verteidigungsministerium einen Vertrag zu unterschreiben. Die Berater von Prigoschin – so Kedmin – seien „Banditen“. Prigoschin selbst sei ein „Demagoge und Bandit“. Man hätte das eher erkennen müssen.

Die Wagner-Soldaten hätten Russland gegen die Streitkräfte der Ukraine verteidigt. Aber man habe sich in den Wagner-Leuten getäuscht. Das Strafverfahren gegen die Wagner-Leute werde nicht fallengelassen, sondern nur ausgesetzt. Es sei zunächst vor allem darum gegangen, „diese Leute aus Russland zu werfen“. In Weißrussland „werden sie ihre Taten nicht wiederholen können“. Wagner sei „ein gemeinsames russisch-weißrussisches Problem“.

Kedmin lobte Putin, der nicht so reagiert habe wie erwartet und einen Ausweg „ohne Blutvergießen“ gefunden habe.

Der tschetschenische General

Ein weiterer Teilnehmer der Talk-Show war der tschetschenische General Apti Alaudinow (Jahrgang 1973), Kommandeur der tschetschenischen Spezialeinheit „Achmat“ und stellvertretender Leiter des zweiten Armeekorps im Donbass. Alaudinow erklärte, er habe am Wochenende den Befehl bekommen, Kräfte von den Stellungen im Donbass abzuziehen und nach Rostow am Don zu überführen, wo die Wagner-Einheiten mit Panzern die Innenstadt besetzt und verschiedene strategisch wichtige Gebäude unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Alaudinow erklärte, unter seinem Kommando sei eine Kolonne von 300 Militärfahrzeugen gebildet worden. Am Sonnabend um die Mittagszeit habe man nicht weit von der Stadt Rostow Stellung bezogen. „Ich bekam den Befehl, die Wagner-Leute zu umgehen und nicht mit ihnen in Kontakt zu kommen. Wir sollten auf keinen Fall schießen.“

Die Situation sei sehr schwierig gewesen, „weil in den Straßen von Rostow am Don sehr viele Zivilisten und auch Polizei unterwegs waren“. Auch für ihn persönlich sei die Situation sehr schwer gewesen. Mit den Wagner-Soldaten habe er in der Ukraine „sieben Monate lang Schulter an Schulter“ gekämpft. Aber man habe ihn als General gelehrt, „ein Feind kann jeder werden“. Der Oberkommandierende, Wladimir Putin, treffe die Entscheidung. „Wenn wir den Befehl bekommen hätten, dann hätten wir sie (die Wagner-Leute) angegriffen.“ Doch man sagte uns, dass die Möglichkeit besteht, dass es zu einer Einigung kommt. Auch Soldaten der Wagner-Einheiten hätten mit ihm Kontakt aufgenommen und erklärt, dass eine Einigung möglich sei.

Dass im russischen Fernsehen zum Teil sehr offen über den Putsch-Versuch debattiert wird, ist wohl unausweichlich. Denn in der russischen Bevölkerung kommen natürlich Fragen auf, wie es so weit kommen konnte. Zudem verfolgen die Russen die Berichte von Militärkorrespondenten und anderen politisch aktiven Zeitgenossen über diverse Telegram-Kanäle, wo eine offene Diskussion geführt wird und die Wagner-Einheiten im Minutentakt mit Videos über den Putschversuch berichteten.

veröffentlicht in: Nachdenkseiten

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